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«Der grösste Gewinner von vernetzter Mobilität ist der öffentliche Verkehr»

«Digitale Infrastruktur» und «Multimodalität» sind derzeit in aller Munde. «ArcMobilité» verknüpfte diese beiden Konzepte erstmals in einem Projekt. Herausgekommen ist ein Prototyp, der auf einfache Art und Weise Daten verschiedener Mobilitätsanbieter verknüpft. Im grossen, zweiteiligen Interview erzählt Projektleiter Andreas Fuhrer von den Ursprüngen des Vorhabens, den Herausforderungen während der Realisierung sowie den Erkenntnissen im Hinblick auf das ambitionierte Bundesprojekt einer «Nationalen Dateninfrastruktur Mobilität».

Andreas Fuhrer, wie würden Sie einem Laien in wenigen Worten «Digitale Infrastruktur» erklären?
Eine digitale Infrastruktur ist eine Dienstleistung mit Infrastrukturcharakter, um einfach Daten auszutauschen. Die erste digitale Infrastruktur war im Grunde das Internet, denn es vernetzte Computer und schuf gemeinsame Speicherorte. Digitale Infrastrukturen sind offen, neutral, nicht gewinnorientiert und sorgen dafür, dass verschiedene Systeme leicht kombiniert werden können, ohne dass jeder mit jedem eine Schnittstelle baut.

Wie muss man sich diese Infrastruktur vorstellen?
Es ist wie eine Steckerleiste. Klinkt sich ein Unternehmen ein, so kann es darüber Daten für andere sicht- und nutzbar machen. Umgekehrt kann das Unternehmen auch die von anderen freigegebenen Daten nutzen. Die Datenhoheit bleibt dabei bei den Eigentümern. Denn es ist eine Steckerleiste, keine zentrale Plattform und kein Datentopf.

Entspricht die NOVA-Vertriebsplattform der öV-Branche nicht genau diesem «Steckerleisten»-Prinzip?
Genau. Der öffentliche Verkehr der Schweiz hat bezüglich digitaler Infrastruktur seine Hausaufgaben gemacht. Innerhalb des öV sind wir hervorragend vernetzt. Wir haben gegenüber allen anderen Ländern einen grossen Vorsprung, weil der öV als zentraler Mobilitätsakteur bereits über eine Steckerleiste verfügt. Damit ist ein guter Teil des Wegs schon geschafft. Was noch fehlt, ist die Vernetzung mit anderen Mobilitätsdienstleistern.

Entspricht diese Datenvernetzung wirklich einem verbreiteten Bedürfnis?
In Bezug auf Mobilität definitiv. Digitale Infrastrukturen werden in einigen Jahren eines der zentralen Puzzleteile für das Zusammenspiel der verschiedenen Verkehrsträger sein. Denn das Mobilitätsverhalten ändert sich. Menschen suchen kein Produkt mehr, sondern Leistungen und maximale Flexibilität. Dieses neue Konsumverhalten zeigt sich auch in anderen Bereichen, beispielsweise mit Netflix oder Spotify.

Sie sprechen damit Konzepte wie beispielsweise «Mobility as a Service» an.
Ja, denn ich brauche nicht die Zugfahrt oder ein Auto, sondern Mobilität in der jeweils passenden Form. Ich möchte mich nicht mehr im Vorneherein für den öV, das Velo oder Auto entscheiden. Für die Skitour heute brauche ich ein grösseres Auto, morgen reicht ein Smart. Und oft ist der öV das Beste. Maximale Flexibilität ist in Zukunft gefragt.

Diese Flexibilität bietet das Automatische Ticketing seit gut einem Jahr im öffentlichen Verkehr.
Der öV hat in diese Richtung bereits gute Voraussetzungen geschaffen. Neben der Integration aller öffentlichen Transportunternehmen in ein Tarif- und Vertriebssystem hat er mit dem Automatischen Ticketing ein anbieterübergreifendes Pay-per-use-Modell aufgebaut. Dieses ist aber nicht multimodal. Ich kann also nicht wählen, ob ich die Strecke mit dem öV, Mietauto, Taxi oder Trottinett zurücklege.

In diese Richtung ging Ihr Projekt «ArcMobilité», welches Sie jüngst abschliessen konnten. Was wollten Sie mit diesem Vorhaben erreichen?
Wir wollten der Multimodalität Beine machen. Denn wir hatten festgestellt, dass zwar alle von multimodaler Mobilität sprechen, sich aber wenig wirklich bewegt. Multimodalität braucht digitale Vernetzung – und die ist kompliziert. Es fehlt die Steckerleiste. Mit ArcMobilité wollten wir eine Digitale Infrastruktur in die Welt setzen, nicht nur studieren – als eine Art regionales Pilotprojekt für die Schweiz.

Für diesen Pilot hatten Sie sich die Region Lausanne/Genf ausgesucht. Aus welchem Grund?
Die Region Lausanne/Genf ist ein Metropolitanraum, wie er auch in Zürich, Bern oder Basel existiert. Lausanne und Genf verfügen über einen starken öffentlichen Nahverkehr. Gleichzeitig nimmt die Verkehrsbelastung durch den Agglomerationsverkehr zu – sowohl im öV als auch auf der Strasse.

Ziel des Projekts war also, die Pendlerinnen und Pendler vom Auto in den öV zu lenken?
Das wäre viel zu wenig weit gedacht. Das Ziel war, erstmals eine grössere Anzahl Personen zu animieren, in neuen, multimodalen Mobilitätsformen unterwegs zu sein. Sprich: Sie nutzen für den Einkauf, die Arbeit oder in der Freizeit vom Start bis zum Ziel flexibel die jeweils beste Verkehrsart. Statt nur die Verkehrsinfrastruktur auszubauen, nutzen wir als Antwort auf das Verkehrswachstum auch die Möglichkeiten der Digitalisierung.
Generell müssen wir aufhören, den öffentlichen Verkehr gegen die anderen Mobilitätsträger antreten zu lassen. Wollen wir den Anteil des öV an der Mobilität signifikant steigern, müssen die verschiedenen Mobilitätsanbieter intelligent kombiniert werden. Denn der grösste Gewinner von vernetzter, multimodaler Mobilität ist der öffentliche Verkehr.

Der zweite Teil des Interviews folgt im März-Newsletter. Mehr Informationen zu Digitaler Infrastruktur, NaDIM und NOVA erfahren Sie zudem an den «IT-Talks im öV Schweiz» vom 28. April 2021. Melden Sie sich noch heute für die Tagung an.


Wer steckt hinter dem Projekt «ArcMobilité»?

ArcMobilité ist eines von mehreren Kollaborationsthemen der Genossenschaft MOVI+. Mitglieder der Organisation sind Transportunternehmen rund um den Genfersee, darunter die Städtischen Verkehrsbetriebe von Lausanne und Genf. MOVI+ vereinfacht die Zusammenarbeit zwischen den öV-Betrieben, von der Rollmaterialbestellung bis zur Realisierung neuer Projekte wie ArcMobilité. Als regionale Dachorganisation betreibt MOVI+ auch Apps und weitere IT-Dienstleistungen.

Zur Person

Andreas Fuhrer ist Leiter Digitalisierung bei der SBB Informatik. Zuvor hat er das öV-Branchenprojekt NOVA geleitet und war verantwortlich für das Mandat IT & Services der SBB für die öV-Branche.

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